Wo haben Sie während der Invasion gelebt?
Ich war in Kyjiw. Ich war gerade aus Polen zurückgekehrt, am 20. Februar, und ein paar Tage später ging es los. Es war gefährlich, jeder dachte, dass vielleicht etwas passieren würde, und am 24. Februar versammelten sich alle und begannen zu überlegen, was sie tun könnten. Evakuierung? Wir beschlossen, zu bleiben. Wo leben Sie jetzt?
In Kyjiw, im Dominikanerkloster. Was war Ihr größtes persönliches Problem seit der Invasion?
Als die Invasion begann, war mir nicht klar, wie ernst es war. Die Kämpfe fanden ein paar Tage lang in der Nähe von Kyjiw statt, es gab die Meldungen, aber als ich mir später Videos anschaute, sah ich, wie brutal die Kämpfe waren, und dann begann ich zu verstehen, dass die Welt zusah, wie Kyjiw fallen würde. Und das war das Problem – ich habe mir das alles nicht vorstellen können. Vielleicht war das gut. Denn später, als ich Videos der Ereignisse in Butscha sah, wurde mir klar, dass die Invasoren an der Eroberung Kyjiws nicht gescheitert waren, weil sie zu schwach waren, sondern weil unsere Kämpfer sie aufgehalten hatten. Wie gefährlich wäre es hier wohl geworden, wenn sie die Stadt gestürmt hätten, so wie Mariupol und Butscha? Haben Sie am 24. Februar 2022 geglaubt, dass die Ukraine in der Lage sein würde, sich zu verteidigen?
Ja, ich habe daran geglaubt. Vielleicht war ich nicht einmal zu 100 Prozent davon überzeugt, dass Russland angreifen würde. Es gab immer noch die Hoffnung, dass es ein Bluff war, die Befürchtung, dass es eine Erpressung war – und am Ende hat es unsere Regierung vielleicht gewusst, weil man es im Westen wusste. In Polen fragten die Leute: Wird es einen Angriff geben? Und ich habe geantwortet: Wenn er angreift, werden wir uns verteidigen. Glauben Sie heute, dass die Ukraine in der Lage sein wird, sich zu verteidigen?
Sie ist es. Sogar mehr als am 24. Februar letzten Jahres. Vor einem Jahr ging es mehr um den Willen, sich zu verteidigen. Der wurde vom Westen unterschätzt. Die Ukraine hatte wenig Waffen, aber diesen Willen. Heute kommt zu dem Willen auch noch hinzu, dass der Ukraine schwere Waffen geliefert werden. Die Verteidigungslage hat sich also verbessert. Glauben Sie, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird?
Die Frage ist, was bedeutet „gewinnen“? Darüber gibt es eine Menge Diskussionen. Für mich persönlich, und auch für viele andere, ist der Sieg im Krieg dann erreicht, wenn wir die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen. Wenn wir den Donbas und die Krym zurückgewinnen und der Aggressor abzieht. Wir müssen nicht nach Moskau marschieren, wie es im Zweiten Weltkrieg der Fall war, als die Armeen bis nach Berlin mussten. Aber der Aggressor muss von unserem Territorium entfernt werden. Das wird der Sieg sein. Warum ist die territoriale Integrität wichtig? Hitler wurden Zugeständnisse gemacht, damit er sich beruhigt. Und er hat sich nicht beruhigt. Und hier haben wir eine 300 Jahre alte Geschichte: Solange man nachgibt, Kompromisse eingeht und mit Moskau verhandelt, wird es immer schlimmer. Es bleibt eine tickende Zeitbombe.  Putin will die ganze Ukraine. Eine Boa Constrictor verschlingt ihre Beute mit Haut und Haaren. Die Donezker Volksrepublik, jetzt wollen sie die Republik Charkiw, die Republik Cherson. Und so geht es weiter. Daher ist die Wiederherstellung der territorialen Integrität entscheidend. Und auch die Krym?
Ja. Es wird keinen Frieden geben, bis alles, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vereinbart wurde, zurückgegeben wird. In Putins Russland gibt es den Wunsch, das wiederherzustellen, was vor 1991 war. Das ist eine Manie, eine Krankheit. Imperialismus, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.  Wo kann man nach Analogien suchen? Vielleicht in Jugoslawien – bis Serbien von allen jugoslawischen Teilrepubliken abgeschnitten wurde, wollte Serbien nicht zur Ruhe kommen. Es gab Völkermord, Aggression, den Versuch, Jugoslawien wiederherzustellen. Hier geschieht etwas Ähnliches. In Deutschland sagen einige, dass die Ukraine aufgeben sollte, um weiteres Leid zu verhindern. Was halten Sie von dieser Idee?
Das ist eines der Elemente der russischen Propaganda, die sogar bis in den Vatikan vorgedrungen ist und die in manchen Kreisen populär ist: dass die Ukraine Russland provoziert hat, weil die Ukraine Russland provozieren wollte, weil die Ukraine in die Nato wollte, weil die Ukraine etwas anderes wollte. Damit wird die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt. Wir wollten uns selbst schützen. Das erinnert an die Geschichte des Mädchens, das abends mit Wachen unterwegs ist und gefragt wird: „Warum sind die Wachen bei dir? Du provozierst uns mit deinen Leibwächtern, wir werden sie jetzt töten und dich vergewaltigen.“ Das ist eine Anschuldigung des Opfers, das sich schützen will. Wir leben schon seit Jahrhunderten mit Russland zusammen.  Wir wollten uns schützen, weil wir wissen, wie Russland ist, insbesondere Putins Russland. Das ist keine Provokation, sondern der Versuch, uns zu schützen. Und es ist naiv, zu glauben, dass sich Russland beruhigen würde, wenn die Ukraine nicht der Nato beitreten wollte. Diese Invasion wird schon seit Jahrzehnten vorbereitet, seit Putin im Amt ist. Was ist Ihr größter Wunsch?
Mein persönlicher Wunsch ist, dass dieser Krieg den imperialen Ambitionen Russlands für immer ein Ende setzt. Manche sagen, es sei kein Imperium, Imperien seien zivilisiert, aber vielleicht ist es ein Imperium, wie es das Imperium von Dschingis Khan einst war – Russland ist am Ende der Nachfolger dieses Imperiums. Viele Historiker, die sich mit Russland beschäftigen, leugnen das nicht. Wenn man also das Reich von Dschingis Khan als ein Reich betrachtet, dann kann man es nicht mit dem Britischen Reich vergleichen. Russland setzt eine solche Politik fort, es verfolgt weiter seinen größten Traum. Und ich möchte noch etwas Positives hinzufügen – den Wunsch, dass Russland zivilisiert wird. Es ist sehr schwer zu erreichen, aber es wäre gut, einen Nachbarn zu haben, der zivilisiert ist, nicht wild, der nicht mehr Territorium will. Glauben Sie, dass Sie der russischen Armee jemals verzeihen können? 
Nein, nicht der Armee. Es geht mehr um Russland, um die Menschen. Die Armee ist wieder eine Analogie zu Deutschland. Niemand verzeiht der SS, niemand verzeiht Kriminellen. Sie werden verurteilt. Sie entschuldigen sich, wie zwischen Deutschland und Polen, zwischen Nationen. Das ist es, worauf wir hoffen können, wenn die Menschen dort Buße tun und zur Einsicht kommen. Der Herr mag ihnen vergeben - Verbrechern. Wir sagen nicht, dass alle russischen Bürger:innen Verbrecher sind. Aber sie beteiligen sich an Verbrechen, wählen und unterstützen sie. Aber es ist möglich, nach dem Krieg zu vergeben, nach der Wiederherstellung der Ukraine, nach der Zahlung von Reparationen, nach einem gerechten Frieden. Nicht nach einem Kompromiss, denn der würde für Russland nichts bedeuten. Dann wird Vergebung möglich sein. Es gab bereits seit 2015 internationale Treffen und Konferenzen zu diesem Thema. Ein Friedensstifter kam aus Kroatien, er beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Frage der Vergebung zwischen Kroaten und Serben. Auch dort gibt es Hass, und er sucht nach Möglichkeiten, diesen zu beseitigen. Schließlich haben die europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge Erfahrung darin, wie man Beziehungen aufbaut. Aber das war nur möglich, weil alle Schuldigen verurteilt wurden. Wenn Russland begreift, dass die Ukraine ein eigenes Volk ist, ein eigenes Territorium ist, und das ein Recht auf Existenz hat, dann werden wir vergeben. Was haben Sie vor der Invasion beruflich gemacht?
Ich habe am Institut für Religionswissenschaften im Buchverlag gearbeitet. Was machen Sie jetzt?
Wir veröffentlichen weiterhin Bücher, das Institut läuft weiter, wir schreiben Artikel, halten Vorträge und gehen mit den Studenten irgendwohin, um uns auszuruhen. Jetzt ist es ein bisschen schwieriger, wir sind ein bisschen online gegangen, es gibt Stromausfälle, wir mussten einen Generator installieren.