Eine Frau namens Olga berichtet davon, wie sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern am 15. März 2022 aus Mariupol über die besetzte Krym nach Georgien geflohen ist. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Angriffe durch Russland auf einem Höhepunkt. Die Familie versteckte sich neben dem Theater, welches am 16. März durch die russische Armee mit einer Fliegerbombe angegriffen wurde - einen Tag nachdem die Familie die Stadt verlassen hatte.  Aus Sicherheitsgründen bittet die Frau darum, ihren richtigen Namen nicht zu nennen. Olga und ihre Familie schafften es nach Georgien, doch ihre Eltern wohnen bis heute im besetzten Gebiet.   Olga berichtet von der Vielzahl zerstörter Gebäude in den Wohnvierteln Mariupols, durch die Bombardierungen. Ihre Geschichte ist eine Ausnahme. Das Haus, in dem sie lebte, blieb ebenso wie das Wohnhaus ihrer Eltern von Schäden verschont. Ihre Eltern sind in Mariupol geblieben, um zu verhindern, dass die Häuser durch das russische Militär besetzt werden. „Erst vor der Heizperiode haben meine Eltern wieder Zugang zu Gas, Strom und Wasser erhalten. Viele Menschen warten noch immer darauf, wieder Zugang zur kritischen Infrastruktur zu bekommen. Die Stadt ist stark zerstört und es ist schwierig, Arbeit zu finden. Einheimische verdienen auf den Baustellen weniger als die Russen, die erst in diesem Jahr ankamen. Die Bewohner:innen Mariupols fürchten erneute massive Bombardierungen ihrer Stadt. Nach der Hölle im letzten Jahr besteht die Sorge, dass bei der Befreiung durch die Ukraine erneut heftige Beschüsse stattfinden könnten.” Am 19. März 2023 tauchten mehrere Berichte auf, die belegen, dass der russische Präsident Wladimir Putin das besetzte Mariupol besucht hat. Der Bericht, der vom Pressebüro des Kremls und der “Allrussichen staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft” produziert wurde, zeigt Putin, wie er mit dem Hubschrauber nach Mariupol flog. Mit dem Auto besuchte er verschiedene Stadtteile, darunter auch die Küste von Mariupol im Bereich des Yachtclubs sowie den Bezirk, in dem sich das Theatergebäude befindet. Der Berater des Bürgermeisters von Mariupol, Petro Andrjuschtschenko, erklärte gegenüber KATAPULT Ukraine, dass die Aufnahmen “eine inszenierte Show aus der Hand der russischen Propaganda darstellen”. Laut Andrjuschtschenko ist die Stadt zu 90 Prozent zerstört. Von der halben Million Einwohner, die vor dem Krieg hier lebten, sind nur noch etwa 90.000 übrig. 50.000 bis 60.000 der verbliebenen Einwohner sind Rentner. Neben 12.000 bis 13.000 Kindern, die noch in der Stadt leben. “Die Menschen bleiben aus verschiedenen Gründen in Mariupol", sagt Andryushchenko. “Einige können ihre Verwandten nicht verlassen, andere können ihr noch erhaltenes Zuhause nicht aufgeben". „Die Sterblichkeitsrate ist achtmal höher als in der Vorkriegszeit. Verantwortlich ist die fehlende medizinische Versorgung. Im Herbst hofften noch 60 Prozent der Menschen, ein Leben unter der Besatzung Russlands sei möglich. Heute hoffen 70 Prozent darauf, dass die Stadt bald wieder unter der Kontrolle der Ukraine steht. In Mariupol herrscht stetiger Terror und Unterdrückung, wodurch in den sozialen Medien kaum pro-ukrainische Gefühle gezeigt werden”, erklärt Andrjuschtschenko. Ihm zufolge überlebten 40 Prozent der Einwohner:innen Mariupols den Winter ohne Heizung. Ständig gebe es Probleme mit dem Strom oder den öffentlichen Verkehrsmitteln, sodass man manchmal bis zu 2 Stunden warten müsse. „Die Menschen haben sich an die Bedingungen angepasst und auch an die Ruinen um sie herum gewöhnt. Sie versuchen, etwas Gutes in allem zu sehen und betrachten ihr Leben in den Ruinen als Verbesserung der Bedingungen zum letzten Jahr.  Während der Blockaden und dem anhaltenden Beschuss, versteckten  sich die Bewohner:innen in Kellern. Alltägliche Erfahrungen, im Leben bestimmt vom Angriffskrieg. Jetzt zerstören die Besatzer Wohngebäude, die durch ihre eigenen Bomben zerstört wurden. Diese werden gemeinsam mit den menschlichen Überresten abgerissen. So wurden beispielsweise im kleinen Bezirk Tscheremuschki und im Bezirk Primorski, 26 der 29 neunstöckigen Gebäude abgerissen. In der Nähe wurden bis zu vier Häuser gebaut und sechs weitere geplant. Warum weniger als vor der Zerstörung? Weil es kein Geld gibt, auch nicht für Gehälter. Die Leute warten zwei bis drei Monate auf ihr Gehalt.” erzählt Andrjuschtschenko. Laut Olga ist die pro-ukrainische Stimme in Mariupol aufgrund der harten Repressionen kaum zu hören. Selbst wenn man Russland verabscheut und die Ukraine unterstützt, kann man das nicht laut sagen. “Man wird denunziert. Wenn ein Kind in der Schule etwas Pro-Ukrainisches sagt, werden die Eltern benachrichtigt und bei der Stadtverwaltung gemeldet. Danach steht die Familie unter Beobachtung. Allerdings sind  die Lehrer:innen aus Mariupol weniger streng als die, die aus Russland kamen”, berichtet Olga.  Olga plant, im Sommer nach Hause zurückzukehren, wenn es keine Bombardierungen mehr gibt. Anders Ihre älteste Tochter. Sie ist entschlossen, nicht eher nach Mariupol zurückzukehren, solange die Stadt durch die Russen belagert wird. Allerdings scheint die Aussicht auf eine Rückkehr nach Mariupol in greifbare Nähe zu rücken. Während die Ukraine den Grundstein für eine Großoffensive auf die Krym legt, stellen Städte wie Mariupol eine  Schlüsselposition dar, deren Befreiung bereits geplant ist.  Am 19. Dezember 2022, bei Feierlichkeiten zum Nikolaus , wandte sich ein fünfjähriger Junge an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, Walerij Saluschnyj. Der Junge fragte ihn, ob eine Rückkehr nach Mariupol für die Menschen sicher sei. Saluschnyj bestätigte die Hoffnungen des Jungen. Laut ihm bestand die Aussicht auf eine Rückkehr im nächsten Jahr. Also in 2023. Die Geschichte erzählte der Oberbefehlshaber ebenfalls in einem Dokumentarfilm über das erste Kriegsjahr in der Ukraine, der am 24. Februar 2023 erschien.  Drei Tage zuvor, am 21. Februar, griff die ukrainische Armee die Militärstützpunkte der russischen Truppen im vorübergehend besetzten Mariupol an. Im Fokus standen die Munitionslager des Flughafens, des Stahlwerkes und von zwei Treibstofflagern. Es waren die ersten Explosionen, die seit Mai 2022 in der Stadt zu hören waren. Tatsächlich seien die Angriffe der Ukraine auf russische Militärstützpunkte eine große Überraschung für die russischen Truppen gewesen. Dies stellte der britische Geheimdienst später in seinem täglichen Bericht zum Krieg in der Ukraine fest. Nach Angaben britischer Experten ging Russland davon aus, dass sich Mariupol außerhalb möglicher Angriffspunkte der ukrainischen Truppen befinde. Mit 80 Kilometern Entfernung zur Frontlinie hielten sie einen Angriff auf diese Entfernung für unmöglich. Da die Stadt an einem entscheidenden Logistikstandort auf dem Weg zur Krym liegt, ist sie wichtig für Russland. Entgegen der Einschätzung Russlands attackieren ukrainische Truppen seit zwei Monaten regelmäßig russische Munitionsdepots und Militärstützpunkte in Mariupol. Laut dem ukrainischen Militärexperten Roman Svitan ein Zeichen für den Beginn der Vorbereitungen für Offensivaktionen der ukrainischen Streitkräfte. Er teilte der KATAPULT Ukraine mit, dass solche Angriffe ein oder zwei Monate vor Beginn der Offensive erfolgen. Laut Svitan könne die Ukraine Mariupol auf zwei Wege befreien. Die erste sieht vor, von Wugledar, die derzeit unter der Kontrolle der Ukraine steht, in die besetzten Gebiete WolnoWakha und Novoasovsk vorzudringen. In diesem Fall würde Mariupol in den ersten Wochen der Offensive befreit. Der zweite Weg würde die Streitkräfte von der besetzten Region um Swatowo, bis zur Asowschen Küste, nach Berdjansk und Melitopol führen. So würde Mariupol frühestens sechs Monate nach Beginn der Offensive wieder ukrainisch. „Die Befreiung von Mariupol ist für die Streitkräfte weitestgehend ungefährlich. Wenn die Stadt vom Landkorridor in der Region Nowoasowsk abgeschnitten wird, droht ein Versorgungsengpass. In diesem Fall wird Russland in zwei bis drei Wochen die Munition ausgehen. Und ohne die, wird es keine Chance auf Verteidigung mehr geben. Entgegen dem, was Russland getan hat, wird die Ukraine auf keinen Fall ihre eigenen Städte mit Flugzeugen bombardieren“, erklärt Svitan. Svitan bestätigt jedoch, dass Mariupol für Russland eine Schlüsselposition in der Besetzung der Südukraine darstellt. Handelt es sich dabei doch um die Verbindung des Festlandes zur besetzten Krym.